12 Bab

Bab beendete sein Mahl aus Früchten, Wurzeln und Fleisch. Er hatte sich vollgestopft für den Fall, daß es lange dauerte, bis er wieder aß. Neben ihm putzte sich Ornet, gleichfalls bereit.

Dec kam von seiner letzten Erkundung herangesegelt. Mittels minutiöser Ausrichtung seines Mantels gab er das Zeichen: Alles ist in Ordnung.

Bab hob seinen Flügelarm und bog die fünf federlosen Finger nach innen, um OX zu signalisieren: Wir sind bereit.

OX dehnte sich aus. Seine funkelnde Präsenz umgab sie, wie sie es schon so viele Male getan hatte. Aber diesmal war es etwas Besonderes. Das Feld intensivierte sich, hob sich - und sie waren in Bewegung. Nicht durch den Raum; durch die Zeit.

Zuerst gab es kaum eine Veränderung. Sie konnten die grüne Vegetation der Oasis und die Hütte sehen, die sie zu ihrem Schutz und ihrer Bequemlichkeit gebaut hatten. Weiter draußen befanden sich die Gräben und Barrieren, die sie errichtet hatten, um die Raubmaschine abzuwehren.

Die Maschine. Sie nannten sie Mech. Sie war gemeinsam mit ihnen gewachsen, weil sie Teil der Enklave war, die OX gealtert hatte. Sie war eine ständige Bedrohung, und doch respektierte Bab sie auch als einen zuverlässigen und zielbewußten Gegner. Hätte es in seiner Macht gelegen, sie zu vernichten, würde er dies nicht getan haben, denn ohne sie wäre die Gruppe weniger wachsam, weniger fit und gelangweilt.

Brauchen wir Gegnerschaft, um zu gedeihen? fragte er sich selbst und verschränkte dabei seine Finger, so daß er den anderen seine Gedanken nicht unbeabsichtigt signalisieren würde. Offenbar ja. Die immer gegenwärtige Bedrohung ihres Überlebens hatte sie alle gezwungen, schneller und besser vorwärtszuschreiten, als das sonst der Fall gewesen wäre. Vielleicht war ironischerweise vor allem die Maschine für ihren Erfolg als Gruppe verantwortlich. Dies war eine Überlegung, von der er wußte, daß die anderen sie nicht verstehen würden, und vielleicht ergab sie auch keinen Sinn. Aber sie

war interessant. Er schätzte interessante Dinge.

Dann verschwand die Hütte. Die Bäume veränderten sich. Sie dehnten sich aus, alterten und vergingen. Neue wuchsen heran, reiften, gingen dahin. Dann blieb nur noch Gesträuch übrig, und schließlich war die Region eine öde Landsenke.

Bab bewegte seine Finger, verdrehte sie in der Sprache, die Ornet, Dec und OX verstanden. Unsere Oase ist gestorben, signalisierte er. Das Wasser versickerte, die Erde trocknete aus, die Pflanzen starben. Wir wußten, daß dies passieren würde, wenn wir nicht da waren, um die Planzen zu pflegen und das Wasser zu bewahren, das sie brauchten.

Aber in anderen Gefügen bleibt das Wasser, denn auch OX' Elemente bleiben.

Ein Ableger formte sich in OX' Feld. Dies ist tempory, sagte er, seine Blinkersprache benutzend, die sie alle verstanden. Alle Alternativen gehen von einem x- beliebigen Punkt aus, vorwärts und rückwärts. Alle sind verschieden, und doch scheinen sie aufgrund der Zeitdauertrennung zwischen den Gefügen Vergangenheit und Zukunft zu zeigen.

Offensichtlich, schnippte Bab unhöflich mit den Fingern.

Ornet gab einen gedämpften Quiekton von sich, um teilweises Verstehen auszudrücken. Er war ein fähiger Historiker, schöpferisches Denken hingegen lag ihm überhaupt nicht. Auch seine Sprache wurde allgemein verstanden: Bab konnte sie hören, Dec konnte sie sehen und OX konnte die leichten Veränderungen wahrnehmen, die sie in einem Netzwerk von Elementen hervorrief. Dec zuckte negierend seinen Schwanz: Die Angelegenheit war für ihn nicht von substantiellen Interesse.

Ich würde ein geographisches Driften einschließen, blitzte OX' Ableger. Aber wegen der Begrenzung der Enklave bin ich dazu unfähig.

Unsinn, erwiderte Bab. Wir alle sind zwanzig Jahre vorwärtsgeschritten. Unter den Bedingungen des realen Gefüges existieren wir nur theoretisch - oder vielleicht ist es auch umgekehrt - , also können wir auch auf theoretischen Elementen reisen.

Theoretische Elemente? fragte der Ableger zurück.

Deine Elemente wurden durch die externen Muster gelöscht, signalisierte Bab. Sie existieren nach wie vor in . alternativen Phasen der Realität und dienen als Tor zum gesamten Universum. Benutze sie.

Theoretische Elemente? wiederholte der Ableger.

Bab hatte wenig Geduld mit der Schwerfälligkeit seines Musterfreunds. Bilde einen Kreis, signalisierte er ungefähr so, wie er Ornet geraten hätte, nach Arths zu scharren, wenn der hungrig gewesen wäre. Analysiere es. Akzeptiere das hier als Hypothese: Wir können theoretisch auf theoretischen Elementen reisen. Es muß eine Form der Alterkeit geben, wo dies möglich ist, denn irgendwo in der Alterkeit sind alle Dinge möglich. Für uns mag die Geographie feststehend sein, denn wir sind auf die Enklave beschränkt. Theoretisch kann sich diese Geographie woanders jedoch im Verhältnis zu der unseren genauso ändern, wie es die Zeit tut. Wir müssen lediglich die Gefüge suchen, wo das so ist.

Nicht verstehend baute OX den Kreis auf. Dann war er in der Lage, es zu akzeptieren. Ein solches Reisen war möglich. Und es. geschah.

Die Geographie veränderte sich, als sie über die alternierende Welt glitten. Sie sahen andere Oasen wachsen und sich entfalten.

Bab war überrascht. Er hatte OX aufgezogen, zum Teil jedenfalls. Er hatte nicht wirklich geglaubt, daß solche Bewegungen möglich sein würden. Bisher hatte die Enklavenisolation jeden richtigen Ausbruch verhindert. Aber wenn OX einen Kreis aufbaute, wurde OX dieser Kreis, und seine Natur und seine Fähigkeiten waren verändert.

Vielleicht hatte OX endlich die Fähigkeiten der Außenmuster überwunden. Wenn ja, dann war jetzt ein echter Ausbruch durchführbar. Aber Bab entschloß sich, davon noch nichts zu erwähnen, damit die Außenmuster nichts unternahmen, um das potentielle Loch zu verstopfen. Es war nicht klug, dem Gegner die eigenen Möglichkeiten zu offenbaren.

Auf diese Weise hatten sie Mech ins Hintertreffen gebracht. Früher waren von OX immer gewisse Vorbereitungskreise aufgebaut worden, die die Maschine wahrgenommen hatte. Diesmal hatte Bab OX zu Scheinablegerkreisen veranlaßt, um Mech zu täuschen. So hatte die Maschine, als sie zum Aufbruch bereit waren, an einen neuerlichen Bluff geglaubt und war nicht aufgetaucht.

Bald jedoch war Bab von Oasen, die sich entfalteten, gelangweilt. Laßt uns die Alternativen überschreiten, signalisierte er. Sehen wir uns einige wirklich andere Alternativen an. Wir können jetzt überall hingehen.

Ein weiterer Test, aber OX ging darauf ein. Die Oase in Sicht hörte auf, zu wachsen und begann, sich zu verändern. Die grünen Blätter an den Bäumen wurden braun; die braune Rinde wurde rot. Die Basen der Stämme verdickten sich und nahmen eine knollenförmige Form an. Wesen erschienen - oder entwickelten sich vielmehr aus den schon vorhandenen Halbintelligenzen. Wie Ornet, aber mit unterschiedlichen Schnäbeln: röhrenförmig, spitz, um sie in die schwammigen Baumstämme zu bohren und Flüssigkeit herauszuholen.

Das war schon eher etwas! Bab beobachtete, fasziniert von Bildern, die er nie zuvor gesehen und sich auch nicht vorgestellt hatte. Ein Schatz von Erfahrungen!

Die Bäume erblühten, und die Wesen taten es ihnen gleich. Die Blumen dehnten sich aus, bis es weder Bäume noch Wesen gab, nur noch Blumen. Die Oase selbst dehnte sich aus, bis es überhaupt keine Wüste mehr gab, nur noch große und kleine Blumen.

Ein Streifen erschien. Bab konnte nicht sagen, ob es eine Mauer oder eine solide Nebelbank war. Einige von den Blumen wurden abgetrennt. Sie verdorrten nicht, sie verwandelten sich in bunte Steine. Die Nebelwand wuchs an, bis sie alles verdeckte. Dann verging sie und ließ Plätten zurück, vielfarbig, durchscheinend und in unterschiedlichen Winkeln angeordnet. Maschinen rollten hinauf und hinunter, schnitten hier etwas ab, fügten dort etwas hinzu, modifizierten ständig Einzelheiten der Konfiguration, ohne die generelle Natur zu verändern. Bab gab sich kaum Mühe, nach dem Warum zu fragen. Er wußte, daß es in der gesamten Alterkeit zu viele Wa- rums geben würde, deren Beantwortung wichtigere Probleme vernachlässigen mußte.

Die Platten lösten sich in Streifen aus farbigem Licht auf, und diese wiederum wurden zu Wolken, die in wunderhübschen Mustern herumwirbelten und sich zu Stürmen entwickelten. Regen fiel, dann Schnee - Bab kannte ihn, denn auch in der Enklave fiel jahreszeitlich Schnee und zwang ihn, für schützende Kleidung zu sorgen. Aber dieser Schnee hier war nicht nur weiß. Er war rot und grün und blau und veränderte sich, wenn sich die Alternativen veränderten.

Schließlich verfestigte er sich zu steinernen Wänden: Sie bewegten sich durch eine Kaverne, eine riesige Höhle im Boden. Auch diese kannte Bab, denn letztes Jahr hatte er Werkzeuge zum Graben und Bohren hergestellt und sich tief, tief in den Boden vorgearbeitet, um sich zu vergewissern, ob es in dieser Eichung einen Fluchtweg aus der Enklave gab. Er hatte eine richtige kleine Kaverne geschaffen. Aber es war nichts dabei herausgekommen, und er hatte sie aufgegeben und zugedeckt. Sie benutzten sie jetzt zur Lagerung der Wintervorräte und gelegentlich auch als Schutz vor Stürmen.

Ein gewaltiger Raum tat sich seitlich auf, viel größer als die Höhle, die Bab gemacht hatte. Dann schloß sich das Gestein wieder, ganz so als ob sich die Wände selbst bewegten.

Warte! signalisiete Bab. Ich habe etwas gesehen. Geh zurück. Der Ableger gab ein kontrolliertes Abblenden von sich, das vergleichbar war mit dem Senken von Ornets Schwanzfedern oder Babs eigenem Schulterzucken. Die sich bewegenden Wände machten kehrt, öffneten sich wieder zu der Kaverne.

Da! zeigte Bab an. Geographisch. ein Stück weiter.

Jetzt entdeckten es auch die anderen. Im Zentrum der Kaverne machte eine Kreatur irgend etwas. Sie arbeitete an irgendeiner Maschine - nein, das Ding war zu simpel, um eine Maschine zu sein. Es war lediglich ein mechanisches Gerät, vielleicht der Vorfahre einer Maschine. Töne kamen hervor, angenehm, harmonisch. Das Geschöpf machte Musik, ähnlich der, die Bab selbst mit seiner Stimme und durch das Klatschen seiner Hände auf einen Holzklotz machen konnte, nur sanfter, hübscher. Die Tentakel der Kreatur berührten das Gerät hier und dort, und die melodiösen Töne wurden laut.

Folge diesem Gefüge, gab Bab Anweisung, ganz so als ob die anderen Mitglieder der Gruppe nichts zu sagen hätten. Aber sie gaben sich hier mit seiner Führungsrolle zufrieden. In bezug auf physische Fortbewegung war Dec überragend, in bezug auf Gedächtnis war es Ornet. In bezug auf Denkvermögen jedoch war es

Bab, und sie alle wußten es.

OX richtete sich aus - und aus dem einen fremden Musiker wurden zwei, dann acht und schließlich eine ganze Myriade von Spielern. Die Musik schwoll hallend an. Dann veränderten sich die Kreaturen, wurden humanoid und schließlich menschlich.

Deine Art! kreischte Ornet.

Erstaunt studierte Bab sie eingehender. Meine Art!

Sie veränderten sich zu hohen grünen Pflanzen, die die Instrumente mit Blättern und Wurzeln spielten.

Warte, signalisierte -Bab zu spät.

Aber OX kehrte bereits zurück. Die Spieler von Babs Art formten sich wieder, wurden fremd, kamen zurück, wurden nackt, raffiniert bekleidet und behielten schließlich eine Kompromißform bei. Meine Art! wiederholte Bab halb betäubt.

Aber was sind diese anderen? Er deutete auf einige Individuen, die leicht unterschiedlich waren. Sie ähnelten ihm, aber ihre Körper variierten und ihre Gesichter erschienen so glatt, als seien sie noch nicht erwachsen.

Weibliche Exemplare deiner Spezies, kreischte Ornet. Zeig die natürliche Version, OX.

OX ging darauf ein, wechselte zu den unbekleideten Spielern über.

Weibliche Säuger besitzen kein Urinieranhängsel, erklärte Ornet und deutete mit dem Schnabel auf sie. Aber sie verfügen über Organe zur Nährung der Jungen. Meine Vorfahren haben diese spezielle Spezies nicht beobachtet, aber sie sind lediglich Modifikationen des Typs.

Bab starrte auf die Nährorgane, erschrocken und doch fasziniert. Ich würde gerne meine Hände auf diese Organe legen, signalisierte er.

Das darf nicht getan werden, erwiderte der Ableger. Wir dürfen keinen Einfluß" nehmen.

Ich weiß das! gestikulierte Bab gereizt, obgleich er für einen Augenblick versucht war, OX herauszufordern, einen Kreis für den Versuch aufzubauen. Gehen wir weiter!

Sie gingen weiter, aber danach war Bab in Gedanken hauptsächlich bei seiner Art, bei den unbekleideten weiblichen Exemplaren.

Wenn es nur einen Weg gäbe, die Barriere physisch zu überwinden!

Plötzlich erschien Mech auf der Bildfläche, aus der Lagerhöhle auftauchend. Sie alle waren in keiner Weise darauf vorbereitet. Wieder einmal hatte sich die Maschine als zu schlau für sie erwiesen und war letzten Endes doch bei ihrer speziellen Gefügetour mitgekommen!

Das Ding kam mit wirbelndem Schraubenblatt und sich drehendem Laufwerk und jagte die physischen Gestalten zur Seite, wobei seine Muster zerstörenden Ausstrahlungen so stark waren, daß sich OX explosionsartig bewegen mußte, um Effekte des Nichtüberlebens zu vermeiden. Bab konnte die Funken fliegen sehen, wie beim Schauspiel der Sterne in einer frostigen Nacht.

Dann machte die Gruppe mobil, wie sie es schon so oft zuvor getan hatte. Ornet diente als Köder, knapp außerhalb des Bereichs des Schraubenblatts mit den Flügeln schlagend und kreischend. Dec segelte über die Maschine hinweg und hieb mit dem Schwanz nach den Wahrnehmungsperzeptoren. Bab stand im Hintergrund und schleuderte Steine in das Schraubenblatt. Und OX baute Ableger auf, die über die Elemente in unmittelbarer Nähe der Maschine tanzten und ihre Perspektive des Alternativgefüges störten.

Sie konnten Mech kaum beschädigen, geschweige denn zerstören. Er war gegenüber ihrer Attacke unverwundbar. Aber ihre vereinten Störmanöver machten es ihm sehr unbehaglich und vertrieben ihn stets.

Diesmal hielt er außerordentlich lange durch. Er war unwiderlegbar stark. Aber schließlich entmutigten ihn der Sand und die Steine, die Bab in sein Schraubenblatt und seinen Trichter schaufelte. Sand verletzte ihn nicht, aber er war nicht in der Lage, ihn herunterzuschlingen, während er attackiert wurde. Und so zog er sich zurück

- gerade weit genug, um sie .von ihren Verteidigungsaktionen abzubringen.

Im Laufe der Jahre waren sie zu einer Art Übereinkommen mit Mech gekommen. Wenn sich die Maschine einmal zurückgezogen hatte, ließen sie sie in Ruhe. Und sie griff an diesem Tag nicht mehr an. Waffenstillstand, während dem beide Seiten neue Kräfte sammelten. Keine Seite hatte diese stillschweigende Übereinkunft je gebrochen; die zeitweilige Sicherheit war zu wichtig. Mech schien wirklich ehrlich zu sein.

Vielleicht verhinderten seine mechanischen Schaltkreise jede Art von Unehrlichkeit. Dies war eins der Dinge, die Bab bei der Maschine respektierte. Manchmal spürten er, Dec und Ornet Mech auf und attackierten ihn nur deshalb, um den Waffenstillstand heraufzubeschwören, so daß sie sicher sein konnten, daß er nicht angriff, während sich etwas Wichtiges ereignete.

Als die Maschine friedfertig wurde, warf sich Bab schwer atmend zu Boden. Mech blieb in OX' Einflußbereich, aber Bab hatte auch nicht den Wunsch, ihn daraus zu vertreiben. Sie hatten ihn mit auf diese Tour genommen und sie würden ihn in die normale Enklave zurückbringen müssen. Es wäre nicht richtig, ihn hier gestrandet zurückzulassen.

Einst hatte er gewünscht, die Enklave von dieser fortwährenden Bedrohung zu befreien. Jetzt hatte er die Möglichkeit dazu - und nutzte sie nicht. Nicht nur wegen seiner Interpretation ihres Waffenstillstands, auch weil er sich mehr denn je sicher war, daß Mech ebenfalls eine intelligente Einheit war und ein gewisses Maß an Respekt verdiente.

Aber dann erinnerte er sich an das, was er jenseits der Enklave, in der Höhle der Musiker, gesehen hatte, und vergaß die Maschine.